Berlin, wir müssen reden. Ironischerweise in unserem verflixten 7. Jahr. Meist war ich glücklich mit dir, aber jetzt ist Krise angesagt. Woher die kommt? Es liegt an mir, nicht an dir. Oder genauer: an dem kleinen Dicken. Denn seit der vor 1,5 Jahren dazugekommen ist, ist alles anders: Umzug von Neukölln nach Friedenau. Erst die Befürchtung, sich zu Tode zu langweilen. Dann die Erkenntnis, dass man mit Kind nie wieder Langeweile haben wird. Seitdem ein immer größer werdendes Bedürfnis, eine Sehnsucht: Nach Ruhe. Nach einem Garten. Nach überschaubaren Entfernungen, insgesamt weniger Anstrengungen. Nach Ruhe. Vor allem nach Ruhe.
Man nehme obendrein noch: eine Handvoll befreundeter Muttis, die plötzlich überlegen aus Berlin wegzuziehen oder es direkt in die Tat umsetzen, den Besuch in einer extrem lebenswerten holländischen Stadt (mit einer vollkommen überzeugten Mutti: „Es gibt keinen schöneren Ort für meine Tochter zum Aufwachsen!“), und die BVG. Heraus kommt: Eine wachsende Unsicherheit, ob du, Berlin, und meine kleine Familie noch zusammen passen. Diese Unsicherheit ist durchaus stark tagesformabhängig. Wenn die Nacht kurz war und ich meinen Sohn während der Kita-Eingewöhnungszeit kurz nach Arbeitsbeginn schon wieder abholen muss, ist natürlich alles doppelt anstrengend. Das wäre in einer Kleinstadt nicht anders.
Das Highlight kommt dann aber noch: mit bockigem Kind ohne Aufzug in den 4. Stock zu kommen. Vor dem Dicken dachte ich: Joa, ein Aufzug wär nett. Aber es wird doch auch ohne gehen. Nein. Tut es nicht. Es geht sowas von nicht ohne. Das hat mir mein Beckenboden im ersten Jahr nach der Geburt jeden Tag entgegengeschrien, und das merke ich auch jetzt noch täglich, wenn die Stimmung beim Erreichen der Haustür unten noch okay ist, und, oben angekommen (im Schnitt eine halbe Stunde später), eher so Richtung Weltuntergang. Völlig fertig, am Schwitzen wie ein Schwein und total abgenervt vom Kind. Dabei kann der Dicke ja gar nix fürs Treppenhaus der Hölle. Aber ein Häuschen mit Garten haben wir eben mysteriöserweise nicht gekriegt, innerhalb des Rings.
Ich wusste ja auch gar nicht, dass ich mal so Bock auf einen Garten haben würde. Nicht nur fürs Kind. Auch für mich – um einen grünen, ruhigen Rückzugsort in all dem Trubel zu haben. Nur leider machst du es einem nicht leicht, Berlin: Die wunderschöne Kleingartenkolonie um die Ecke hat jetzt nach durchschnittlich 7 Jahren Wartezeit einen Bewerbungsstopp verhängt. Ist ja klar, bei all den vielen Menschen. Aber wie viele Menschen sind zu viel? Für eine Mutti, die seit 1,5 Jahren nicht mehr richtig geschlafen hat, ist da die Schwelle verdammt niedrig.Bleibt ja noch die Möglichkeit, deine vielen anderen Grünflächen zu nutzen. Also Kind aufs Rad gepackt und zu einem der vielen großen Parks gefahren. Hin ging’s ja noch. Auch wenn im Vergleich zu Holland deine Fahrradwege nicht ganz so gut ausgebaut sind. Eher ziemlich scheiße. Und ganz so schön war die Strecke auch nicht. Eher sau hässlich. Aber so richtig entspannt war dann erst der Rückweg, den wir versuchten mit der BVG zu kombinieren. Zunächst einmal, nach so viel Kritik, ein Lob für dich, Berlin: Deine Aufzüge funktionierten!!! Unfassbar, aber wahr! Hätten wir Konfetti dabei gehabt, es wäre völlig eskaliert. Für etwa fünf Minuten. Dann nahm das Ganze seinen üblichen BVG-typischen Verlauf, sodass wir etwas weniger erholt zu Hause ankamen. Kurz über Scheidung nachdachten. Oder eben einen Umzug. Oder uns doch noch ein Auto anzuschaffen.
Genau darum geht’s: Wir wohnen wunderschön im ruhigen Friedenau. Wenn ich mich nur in meiner Wohnung, den umliegenden Cafés und auf den Spielplätzen um die Ecke aufhalte, ist alles tutti. Jegliche zusätzliche Anstrengung zu Kind, Job und (immer noch) schlafarmen Nächten schaffe ich derzeit einfach nicht. Vielleicht kommt aber die Energie fürs Laute, für viele Menschen und für die BVG irgendwann wieder zurück? Schließlich sind alles nur Phasen mit Kind. Und wenn ich dann irgendwo anders in meinem kleinen Häuschen mit Garten sitze, wo nix los ist, fange ich am Ende vor Langeweile noch an zu backen. Oder gar zu kochen. Das will keiner! Müssen wir uns also wirklich trennen, Berlin, oder einfach nur die Krise bestmöglich (mit Kleingarten, Auto und Treppenlift) überstehen?
Mein Mann erzählt mir momentan gern die Geschichte vom Fischer und seiner Frau, die zu gierig ist und nicht wertschätzen kann, welch gutes Leben sie doch hat. Das finde ich ein bisschen gemein (das ist er gerne mal, angeblich sehe ich auch aus wie Sid das Faultier und habe einen Damenbart – in Sachen „nach immer mehr streben“ hat er allerdings nicht ganz unrecht). Ich kenne jedoch einige Familien, die sich niemals vorstellen könnten, in Berlin zu wohnen. Meine Bedenken sind daher wohl nicht völlig aus der Luft gegriffen.
Also jetzt mal ein Versuch, mich zu sortieren:
Contra Berlin:
- BVG
- BVG
- BVG (Ok, ich merke, wir brauchen ein Auto, aber was Umweltfreundliches)
- Weite Wege, Freunde am anderen Ende der Stadt (die zu groß ist)
- Kein Garten
- 4. Stock. Ohne Aufzug. Mit dickem Kind.
- Weit weg von der restlichen Familie (aber: da alle überall verstreut sind, gibt es auch keine echte Alternative in Deutschland)
- Das Überangebot an Aktivitäten, die Berlin täglich bietet, nutzt man nichtmal ansatzweise (aaaber: Wenn Kind irgendwann verlässlich und länger in die Kita geht und Mutti mal wieder eine Nacht schlafen konnte, vielleicht doch wieder)
- Der Papa hat keine Chance auf Verbeamtung (aber eine tolle Schule)
- Ich hab wenig Chancen auf einen – völlig überteuerten – Kassensitz (aber beruflich gesehen sonst viele Möglichkeiten)
Pro Berlin:
- Wohnen im schönen und grünen Bezirk, wo wir sonntags noch freie Schaukeln finden (im Gegensatz zum Prenzelberg) und Postboten noch die Pakete ausliefern (im Gegensatz zu Neukölln), viele Spielplätze (ohne Spritzen), Ruheinsel im trubeligen Berlin, trotzdem noch gut angebunden
- Wenn man die 4 Stockwerke bewältigt hat: Wunderschöne Eigentumswohnung mit Blick in Himmel und Bäume, nette Nachbarn
- Kind(er) werden älter, Treppenhaus ist irgendwann kein Problem mehr
- Kita (zwar ein halbes Jahr zu spät, aber immerhin) in Laufnähe!
- Keine Kitagebühren!
- Immer was los, v.a. tolle Cafés. Aber auch für‘s Kind, zum Beispiel Zoo und Aquarium, und auch für ältere Kinder anscheinend viel Programm hier
- BVG lässt sich meiden durch Drive now/Carsharing/Autokauf
- Stressige Bezirke lassen sich (mehr) meiden
- Bunte Mischung an Menschen, die in Berlin leben
- Wenn auch mit Wartezeiten: Option Kleingarten (aber: wieviel Energie bleibt überhaupt noch für Fahrten und Gartenarbeit? Muss man ausprobieren)
- Energielevel, das durch Kleinkind, Job und Schlafmangel gerade im Keller ist, ändert sich vielleicht wieder, und damit auch die Bedürfnisse?!
Soweit so gut. Ich merke eine Tendenz – zumindest heute. Da scheint aber auch die Sonne. Du machst es mir nicht leicht, Berlin!
Kennst du diesen inneren Zwiespalt auch? Was spricht deiner Ansicht nach für oder gegen ein Leben mit Kindern in Berlin oder generell in der Großstadt? Ich freue mich über Anregungen!
Hi Ann-Katrin!
Ich habe deinen Blogpost jetzt mittlerweilen zwei, dreimal gelesen, weil ich mir meiner Meinung darüber noch nicht so sicher bin, wie du dir gerade zu deiner Beziehung zu Berlin.
Mein früheres Ich, also das rotzfreche Berliner Gör mit wirklich großer Schnauze, war gleich am quaken: Wat heult die denn rum? Der Mann hat Recht, sie hat doch alles… Natürlich ist Berlin ne große Stadt, aber das weiß man doch #pfftypischzugezogenemeckernimmerüberdieweitenwegediesievonihrenkackdörfernnichkennen, ich finde ja Berlin ist ein kleines Kackdorf – London ist ne große Stadt oder Tokio und überhaupt: Ne Eigentumsbude in Friedenau? Geil! Kein Grund zu lamentieren!
Mein jetziges Ich, immernoch große Schnauze, aber viel mehr Herz und Verstand versteht die Bredouille. Ohne ein Kind zu haben, ist es nachvollziehbar, dass sich alles ändert. Alleine 40 Min durch die Stadt gurken, ist eine Sache. Das Ganze mit einem kleinen dicken Kind (hahaha ich finde das sehr charmant!) ist eine andere Sache. Ich halte die BVG für einen der Hauptgründe, warum ich noch nicht Mutti bin. Und Kinder, die keinen Bock auf Treppen haben, hab ich selbst auch schon erlebt und die armen Muttis immer bemitleidet. Huiuiui, ja es ist hart!
Und ich (und kein Blogleser der Welt) kann dir die Entscheidung abnehmen. Aber deine Tendenz am Ende des Beitrags ist eigentlich relativ eindeutig. Und vielleicht denkst du einfach mal ganz weltoffen und auf Berliner Art an das, was möglich ist, im Sinne des Kompromiss und was man am besten aus dem was man hat und aus dem was man nicht hat machen kann!?!!
Kein eigner Kleingarten? Doof. Aber vllt gibt es ja rund ums schöne Friedenau auch nette Grünflächen/Landschaftsparks? Was ist mit Bürger-Gärten? (Das sind so kleine innerstädtische Gartenflächen, auf denen man ohne große Anmeldung seinen Quadratmeter Erde bekommt und dann da gärtnern kann, trifft man gleich noch andere Leute und ist aber nicht so doll stark verpflichtet wie in ner Laubenkolonie) Kein Fahrstuhl für den Dicken? Vielleicht tuts ja auch ein Körbchen an einem Seil, womit du ihn per Flaschenzug in die Wohnung beförderst. Ok jetzt werde ich ulkig. Schrullige Berliner eben. Im Notfall tut’s der Münz-Trick! Und bedenke: Dein Sohnemann will sicher als cooler Twentysomething auch nach Berlin, umso besser für ihn wenn er schon hier ist. Dann ist er mit 30 genauso genervt von dieser Stadt wie ich. Hach, wat weeß ick! Ein schöner Post ist es in jedem Fall! Alles Liebe & halt uns Leser auf dem Laufenden, wie du dich entscheidest! 🙂 Vickie
Liebe Vickie,
juhu, ich habe Leser! Plural!! Ich flipp aus 😉
Entschuldige meine späte Antwort – ich lag auf Antibiotika und mit Brustentzündung flach. Ich sag dir, es gibt Schöneres. Jetzt aber zu deinem Kommentar: Erst war ich ein bisschen beleidigt (wegen dem Kackdorf, diese Berliner Schnauze ist echt hart für uns Sensibelchen vom Land!), dann hab ich mich ziemlich gefreut (weil du dir so viel Zeit genommen hast und echt gute Tipps hast!) und dann war ich auch noch ein bisschen gerührt, dass dir mein Beitrag gefällt und du (und alle anderen Leser*innen! Die tausenden!) auf dem Laufenden gehalten werden willst. Du merkst, ich bin ein emotionaler Fels.
Jedenfalls danke für deine Worte und Ratschläge. Ja du hast Recht, das ist ein totales Luxus”problem”. Dessen bin ich mir bewusst. Trotzdem beschäftigt und verunsichert es mich, und ich hasse Verunsicherungen, und ich bin total schlecht im Entscheidungen treffen. Schon ein Deo zu kaufen überfordert mich. Die Entscheidung, wie und vor allem wo man mit seiner Familie leben will, ist da auf der “Oh Gott ich könnte eine falsche Entscheidung treffen”-Skala schon ziemlich hoch. Weil es ja nicht ganz unwichtig ist.
Aber so wie du es sagst, machen wir es gerade: 1. Wir haben unser erstes eigenes Auto gekauft (gebraucht, winzig, Erdgas, ha!) – in your face, BVG! Und wir gucken uns hoffentlich bald 1 oder 2 Gärten von anderen Menschen an, die wir vielleicht mitnutzen dürfen (hatte mich noch bei einem KG-Verein angemeldet, Aussage: “Melden Sie sich dann in 4 Jahren regelmäßig. ob was frei ist”!) Und wir gucken uns mal ein paar Alternativen zu Berlin an. Dann sehen wir weiter, und ich schreibe dann nochmal, wie wir uns entschieden haben. Bis dahin versuche ich das, was mich nervt, möglichst zu meiden und den Rest einfach zu genießen (Friedenau im Herbst ist sauschön!).
Denn dir brauche ich ja nicht sagen, wie wichtig das ist – habe natürlich ein bisschen auf deinem Blog gestöbert, toller Schreibstil und sehr unterhaltsam!. Noch eine Frage – was nervt dich denn (als Nicht-Mutti eines dicken Kindes) an Berlin?
Liebe Grüße zurück!